Essay Van Gogh

Der jähe Abbruch auf dem Höhepunkt seines Schaffens

Essay zum hundertfünfundzwanzigsten Todestag von Vincent van Gogh

Am späten Nachmittags des 28. Juli 1890 machte sich Vincent van Gogh kurz vor dem Abendessen in seiner Herberge in Auvers-­‐sur-­‐Oise mit seiner Staffelei auf den Weg, um einmal mehr malerisch die Stimmung über den Weizenfeldern am frühen Abendhimmel festzuhalten. Seit zwei Monaten lebte er in dem kleinen Künstlerdorf außerhalb von Paris; in dieser besonders produktiven Schaffensperiode entstanden an die siebzig Ölbilder, darunter einige seiner größten Meisterwerke. Bei einbrechender Dunkelheit kehrte er in seine Pension zurück, ging schweigend durch die Gaststube, vielleicht etwas unsicher, und stieg dann in seine ärmliche Mansarde im ersten Stock hinauf. Später fand ihn der Wirt in seinem Bett in einer Blutlache, und in der darauf folgenden Nacht starb er an einer sich selbst zugefügten Schusswunde.

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Dies war das abrupte Ende seines zehnjährigen Abenteuers mit der Kunst. Ohne von der Kunstwelt wahrgenommen zu werden, ohne jede äußere Anerkennung, machte sich van Gogh wie besessen täglich aufs Neue ans Werk. Lediglich ein Bild wurde zu seinen Lebzeiten, kurz vor seinem Tod, an eine mit ihm und seinem Bruder Theo befreundete Malerin verkauft. Allerdings hat er mit Künstlern wie Cezanne, Monet, Gauguin und verschiedenen anderen Bilder getauscht, in diesem engen Künstlerkreis spürte man etwas von der Größe dieses von der Öffentlichkeit gänzlich missachteten Künstlers. Van Gogh lebte buchstäblich von der Kunst. Seine faszinierenden Erläuterungen in den Briefen an seinen Bruder Theo, der sein engster Vertrauter und seine einzig stabile Verbindung im Leben war, zeugen von dem künstlerischen Sendungsbewusstsein, das ihn anspornte, und das er von seinem oft unerträglichen  Alltag abzuschirmen verstand.

Was treibt einen Künstler zum Äußersten? Und besonders einen Vincent van Gogh, von dessen von Licht und farbiger Energie sprühenden Kunstwerken, den strahlenden Sonnenblumen, den sommerlichen Weizenfeldern oder der leuchtenden Nachtstimmung des Café Térrace in Arles, diese erregende Kraft ausgeht? Die einfachste Antwort hierauf ist natürlich sein Wahnsinn. Immerhin hatte er sich in Arles anlässlich eines Streits mit Gauguin ein Ohr abgeschnitten und danach ein Jahr in einer Anstalt in Saint Rémy verbracht, aus der er im Mai 1890 entlassen wurde. Aber diese Erklärung ist zu vordergründig.Tatsächlich befand sich Van Gogh nach der Rückkehr nach Paris in einem für ihn außergewöhnlich stabilen Zustand und erlebte eine besonders kreative Schaffensperiode. Man muss daher für diesen Schritt nach anderen Gründen suchen. Der vom Surrealismus geprägte Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur Antonin Artaud, wie van Gogh lange Zeit in Nervenheilanstalten untergebracht, sieht als Motiv die Gleichgültigkeit der Gesellschaft, durch die van Gogh zum Selbstmord getrieben wurde. Selbstmörder durch die Gesellschaft, lautet seine Anklage in einem 1947 erschienenen Text, die im vergangenen Jahr in der Ausstellung im Musée d’Orsay in Paris mit dem Titel Van Gogh/Artaud, der Selbstmörder durch die Gesellschaft erneut aufgegriffen wurde.

Aber Vincent van Gogh hatte mit der Gleichgültigkeit der Gesellschaft, also der Außenwelt, die ihn nicht wahrnahm oder ihn, sofern sie es tat, vehement ablehnte, abgefunden. In Auvers-­‐sur-­‐Oise betrachtete man ihn wahrscheinlich als einen seltsamen Kauz, aber ihm wurden nicht Feindseligkeiten entgegengebracht wie vorher in Arles, wo er von Teilen der Bevölkerung regelrecht verfolgt wurde. Die traumatische Situation dort wäre absolut geeignet gewesen, ihn in den Selbstmord zu treiben, was ein eindeutiger Fall von Selbstmord durch die Gesellschaft gewesen wäre. In Auvers jedoch war die Lage völlig anders, er lebte in einer seelisch ausgeglichenen Phase, sein Tagesablauf war geregelt wie kaum zuvor in seinem Leben. Außerdem befand er sich vor Ort in Behandlung von Dr. Gachet, der ihn kurz vor seinem Suizid für vom Wahnsinn geheilt erklärt hatte.

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Damit bleibt die Frage, warum gerade dort, in Auvers, am 29. Juli 1890? Während einer hyperproduktiven Schaffensperiode und ersten Anzeichen einer breiteren Anerkennung? Selbstmord aus Angst vor dem Erfolg? Sicherlich denkbar bei labilen Künstlertypen, aber Vincent hatte seinen Bruder Theo, der, hätte Vincent tatsächlich den Erfolg nicht meistern können, sich schützend vor ihn gestellt hätte.

Wenn man die einzigartigen Briefe Vincents an Theo liest, frappiert immer wieder Vincents Einblick in das künstlerische, politische und gesellschaftliche Geschehen seiner Gegenwart. Feinfühlig hat er die Trends der Zeit und die enormen Umwälzungen wahrgenommen, sich ständig damit auseinandergesetzt und sie wie kaum ein anderer in den aufwühlenden Formen und Farben seiner Bilder künstlerisch zum Ausdruck gebracht.

 

In seiner Außenseiterrolle ist Vincent zum empfindsamen Beobachter geworden. Was ihn betraf, hatte er die gesellschaftlichen Einflüsse unter Kontrolle. Die spezielle Bedrohung für ihn zu diesem Zeitpunkt kam dagegen aus dem engen privaten Bereich, auf den er sich, seitdem er sich der Kunst zugewandt        hatte, blindlings verlassen konnte. Kurz vor seinem Selbstmord hat er seinen Bruder in Paris besucht, mit ihm dort über dessen berufliche Unzufriedenheit und unsichere Zukunft gesprochen. Insbesondere  hatte er dabei, was sich in einem Brief nach dem Besuch niederschlägt, den schlechten Gesundheitszustand von Theo bemerkt. Er hatte erkannt, dass Theo todkrank war, und er wusste, dass er durch dessen Verlust selbst in eine aussichtslose Situation geraten würde. Nur mit Theos Unterstützung konnte er leben und malen, und nur durch ihn bestand die Hoffnung, sich doch noch eines Tages gegen den feindseligen Kunstmarkt durchzusetzen. Mitten im Schaffen war ihm mit einem Mal der sichere Boden unter den Füssen entrissen worden. Später, allein in den abgeernteten Weizenfeldern um Auvers, sah er bei dieser Sachlage keinen anderen Ausweg. Bei seinem Schritt handelte in völliger Klarsicht. Und tatsächlich starb Theo, der für ihn lebenswichtige Anker, nur wenige Monate später.

Theo eilte, als er in Paris von Vincents Zwischenfall hörte, sofort nach Auvers und stand Vincent in seiner letzten Nacht zur Seite. Seine Hoffnung, das bedeutende Werk seines Bruders der Nachwelt zu vermitteln, wurde durch seine eigene geistige Umnachtung und seinen schnellen Tod vereitelt. Der Künstler und sein Sprachrohr nach außen verstarben im Abstand von nur sechs Monaten.

Wie aber gelang Vincent ohne seinen unermüdlichen Fürsprecher der Durchbruch zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Künstler der neueren Malerei?

Theo hatte, mit Ausnahme der Bilder, die Vincent mit anderen Künstlern getauscht oder an Freunde verschenkt hatte, das Gesamtwerk zusammengehalten, einschließlich des Briefverkehrs zwischen ihm und Vincent. Dieses Erbe fiel seiner Frau Johanna zu, die nach Theos Tod mit ihrem noch nicht einjährigen Sohn in ein kleines holländisches Dorf umgezogen war. Mit Vincents Malerei hatte sie eigentlich nie viel anzufangen gewusst, außerdem kannte sie ihn kaum, und trotzdem widersprach sie allen, die ihr rieten, den riesigen Stapel an Bildern, die, wie Theo durch all seine Anstrengungen bewiesen hatte, unverkäuflich waren, zu vernichten. Vielleicht weil sie in den Bildern, für die sich Theo unermüdlich eingesetzt hatte, eine letzte Verbindung zu Theo verspürte. So wurde sie, eher zufällig, zur Retterin des Gesamtwerks, einschließlich der Briefe. Erst nach und nach entdeckte sie ihre künftige Rolle als Verwalterin dieses einzigartigen Vermächtnisses. Doch es war alles andere als einfach, aus der holländischen Provinz und als Frau auf dem Kunstmarkt für Vincent etwas zu bewegen. Ihre Versuche in Paris scheiterten kläglich. Erste Ausstellungen dort Anfang des 20. Jahrhunderts fanden wenig Anklang. Erst mit einer umfassenden Gesamtausstellung im traditionsreichen Stedelijk Museum in Amsterdam im Jahr 1905 und danach durch Ausstellungen des Berliner Galeristen Cassirer in Deutschland, von Johanna unterstützt, kam die Wende.

Wie leicht hätte das gesamte Werk in Paris auf dem Müll landen können. Die Rolle von Johanna, ohne die van Gogh nie die ihm gebührende Stellung in der Kunstwelt erreicht hätte, hat kaum je die ihr zustehende Würdigung gefunden. Letztlich ist es die Troika Vincent, Theo und Johanna, die gegen alle Widrigkeiten den Erfolg schaffte, jeder in seiner Rolle zur richtigen Zeit.

Vincent van Gogh starb am 29. Juli 1890 in Auvers-­‐sur-­‐Oise in einer armseligen Kammer im Gasthaus der Familie Ravoux, dem letzten Ort seines rastlosen Lebens. Auvers, dreißig Kilometer außerhalb von Paris im von den Impressionisten häufig besuchten lieblichen Tal der Oise gelegen, hat bis heute seinen dörflichen Reiz bewahrt. Das Sterbehaus van Goghs wurde im Jahr 1987 von Dominique Janssens erworben, um es als Gedenkstätte für den einzigartigen Künstlers für die Zukunft zu retten. Vincents schäbige Kammer wurde unmöbliert und unverändert belassen. Der Besucher wird förmlich in die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts zurückversetzt. In dem zu van Goghs Zeiten einfachen Speisesaal befindet sich heute das beste Restaurant der Umgebung. Ein Gang durch den Ort zeigt viele der von Vincent gemalten Motive wie etwa das kleine Rathaus, die Dorfkirche, die er in einem bedrohlichen Blau wie torkelnd dargestellt hat, das Haus von Dr. Garchet oder den Garten des Malers Daubigny. Man meint den Ort zu kennen, aus den vielen allseits bekannten und heute hochberühmten Bildern. Mit etwas Glück trifft man auch auf den freundlichen und mitteilsamen Gastgeber Dominique Janssens in der Gaststätte Ravoux, der hier auf besondere Weise das Erbe van Goghs verwaltet. Ein Abstecher aus Paris nach Auvers, um auf den Spuren van Goghs zu wandeln, lohnt sich auf alle Fälle.

J. R. Bechtle, Autor von Hotel van Gogh, 2013 in der Frankfurter Verlagsanstalt verlegt. Sein nächster Roman 1965 – Rue de Grenelle erscheint zur Frankfurter Buchmesse im Herbst 2015.