Als mir Rudolf Herzog beim Joggen begegnete

Diese Gestalt kommt mir auf dem Pfad im Presidio bei meinem Morgenlauf entgegen, lockig wellendes weißes Haar über einer hohen Stirn, ein weißer gepflegter Schnäuzer, und eindringlich direkte Augen. Ein stolzer, ich möchte meinen, überheblicher Blick. Der Mensch  passt eigentlich nicht hierher, auch in seiner Kleidung, im Anzug, der Stoff zu schwer für Sommer in Kalifornien. Aus der Entfernung wirkt er streng, aber dann lächelt er mir doch freundlich zu, als ich an ihm vorbeijogge. Nicht, dass ich ihn je gesehen hätte, aber mit einem Mal kommt er mir doch bekannt vor, und, als ich bereits an ihm vorbei bin, erkenne ich ihn: Rudolf Herzog, mein Großvater! Wie soll das gehen, er ist doch seit über siebzig Jahren tot? Eine Vision, ein Gespenst, dreh dich schnell um, sage ich mir, aber nach Gespenstern dreht man sich nicht um, das ist bekannt. Hat er mich auf Deutsch oder Englisch gegrüßt? Aber hat er überhaupt etwas gesagt? Jetzt meine ich eher, er sei völlig lautlos an mir vorbeigegangen, fast als ob er schwebte, mir fiel auch kein Atmen auf. Oder wurden seine Geräusche vom Lärm meiner eigenen Joggingschritte und meinem heftigen Atmen überspielt?

Als ich mich schließlich umdrehe, ist die Gestalt wie vom Erdboden verschwunden. Aber er war es, Rudolf Herzog, da bin ich mir absolut sicher. Genauso sah er aus, mit diesem festen, herausfordernden Blick, der mich als Kind, allein in seinem Arbeitszimmer auf der Oberen Burg in Rheinbreitbach, als ich ehrfürchtig vor seinem Portrait stand, bis ins Mark eingeschüchtert hat. Kein Mann für Kinder. Nicht für dieses Kind.

Dabei habe ich ihn persönlich nie gekannt. Er starb wenige Monate vor meiner Geburt. Ich kenne ihn nur vom Hörensagen, und eigentlich nur von dem engen Kreis derjenigen, die um ihn lebten und ihn verehrten. Denn sonst sprach man über ihn nach dem Krieg kaum noch, in unseren Schulbüchern gab es den Dichter nicht. Einer der meistgelesenen Schriftsteller der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und in der zweiten Hälfte war sein Stern bereits verglimmt. Weil er mich interessierte, und Schriftsteller zu sein reizte mich auch, las ich in den Osterferien jeweils einen oder zwei seiner Romane. Ich fand sie durchweg unlesbar, die Gefühle von Ehre und Opfersinn, von Familie, Treue und Heimat, mit denen ich wenig anzufangen wusste, dazu die schwülstige Sprache. Ich wunderte mich über die Leute, für die er geschrieben hatte, jedenfalls nach zwei Weltkriegen gab es diese Empfindungen nicht mehr, die ihn bewegten. So blieb er mir fremd, mein Großvater war kein Vorbild, kein Mentor. Ich zählte ihn nicht zu meinen Schutzengeln, wenn ich um Beistand flehte, dann nicht von ihm.

Außerdem seine politische Einstellung. Ich beschreibe ihn gerne als einen vom Kaiserreich geprägten Deutschen. Aber dabei blieb es nicht, am Ende war er eben doch Nazi, man kann sich nicht ewig auf vorher berufen, vorher waren alle etwas anderes. In seiner 1935 geschriebenen Biografie wehten stolz die Hakenkreuzfahnen, zu einer Zeit, als das Feld beackert wurde, auf  dem später geerntet werden sollte. Wir hatten keine Gemeinsamkeiten, ich spürte die Kälte zwischen uns, wir hatten uns wenig zu sagen.

Besonders nicht, seitdem ich selbst schreibe. Ich fühle, wie sich Rudolf Herzog dagegen gesträubt hätte, und er war nicht der einzige in meiner Familie. Aber keiner so wie er, weil ich auch über Deutschland schreibe, mit dem Blick aus dem Ausland, dadurch nicht unbedingt objektiver, aber umso intensiver. Nicht sein Deutschland, um das es mir geht, sondern das Deutschland, das er mir hinterlassen hat. Das sich aus diesen Trümmern zu einer einmaligen Erfolgsgeschichte entwickelt hat, aber doch mit einer tiefverwundeten Seele: die deutsche Befindlichkeit gegenüber allem Jüdischen;  das Betroffensein, das jeder neuen  Generation anhaftet, auch der schon dritten heute nach dem Zweiten Weltkrieg. Daran gibt es kein Vorbeikommen.

In San Francisco fragte mich einmal ein jüdischer Freund, was aus meiner Sicht das bedeutendste Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts sei. Als ich mit der Antwort zögerte,  gab er sie selbst: die Entwicklung des Halbleiters. Meine Antwort hätte anders gelautet: Auschwitz. Sicherlich, der Halbleiter hat die Welt verändert wie kaum etwas je zuvor, aber der Abgrund, den Auschwitz über die menschliche Seele offenbart hat, steht für sich.  Ich war erleichtert, dass es ihm auf meine Antwort nicht mehr ankam.

Ob Rudolf Herzog die Tatsache, dass in meinen beiden ersten Büchern das jüdische Thema eine zentrale Rolle spielt,  als eine Art Abrechnung mit ihm verstanden hat? Dabei gehen wir von verschiedenen Ausgangssituationen aus, er ist verankert in der Welt vor Auschwitz, und für mich zählt die Welt danach. Fakten sind unumstößlich, es geht darum, wie man mit ihnen umgeht und mit ihnen lebt. Das für mich Entscheidende ist,  dass man mit ihnen lebt, beim Blick nach vorne.

Vielleicht hat Rudolf Herzog dies nach meinem zweiten Buch nun auch selbst erkannt. Es geht nicht um Anklage, sondern darum, die Vergangenheit in das Geflecht der Zukunft einzuschweißen. Deswegen hat es nichts mit ihm zu tun, sondern allein mit mir. Mit meiner Verantwortung, die Vergangenheit lebendig zu halten. So sieht meine Zukunft aus.

Jedenfalls will  ich ihm seinen Erfolg nicht streitig mache. Der steht für sich, davon kann ich nur träumen. Ich setze keine Familientradition fort. Wenn es mir darum gegangen wäre, hätte ich das bei der Entscheidung für meinen Autorennamen deutlich gesagt: J.R. Herzog. Aber gerade das habe ich nicht getan.

Trotzdem freut es mich, dass er sich plötzlich für mich interessiert. Wenn ich mich nur schneller nach ihm umgedreht hätte, ihn nicht einfach an mir hätte vorbeilaufen lassen! Diese einmalige Gelegenheit, die ihn sicherlich auch einige Überwindung gekostet hat, genutzt hätte. Aber warum, warum erschien er gerade jetzt? Hat es überhaupt mit meinen Büchern zu tun?  Oder ist es reine Neugierde gewesen, was sein irdischer Enkel so macht, abgetrieben nach Amerika, wie er aus der Nähe riecht und beim Joggen schnauft?

29.09.2015