Ich wundere mich über Altphilologe in Klammern hinter Rudolf Herzogs Namen, als ich bei Wikipedia nach ihm suchte. Mein Großvater war Schriftsteller, doch kein Altphilologe. Auch die nächste Textzeile irritiert: Rudolf Herzog Mitglied der NSDAP, 1933 erhielt er die Ehrendoktorwürde … Der Erfolgsautor seiner Zeit, vom Kaiserreich geprägt, sollte man das nicht eher einleitend erwähnen, als ihn gleich als Nazi abzustempeln? Als ich dann die Wikipedia Abhandlung über ihn öffne, ist es offensichtlich, dass es sich nicht um meinen Großvater handelt, der um den es hier geht, wurde 1871 in Tübingen geboren, mein Großvater stammt aus Barmen. Im Überfliegen, denn nun interessiert er mich nicht mehr, fällt mir die letzte Zeile ins Auge: dieser andere Rudolf Herzog war Großvater der Filmemachers Werner Herzog. Auf seinen Enkel kann er stolz sein.
Meinen Großvater Rudolf Herzog finde ich weiter oben vor dem von Werner Herzog aufgelistet. Vielleich bin ich bei dem anderen wegen der NSDAP – Mitgliedschaft hängengeblieben. Die erklärende Zeile unter dem Namen meines Großvaters lautet: Ein deutscher Schriftsteller, Journalist, Dichter und Erzähler. Wenigstens nicht gleich die braune Entgleisung in der Endphase seines Lebens in den Vordergrund stellen. Eine Parteimitgliedschaft wird bei Wikipedia nicht erwähnt, sondern dass er während der Weimarer Republik von deutsch-national auf nationalsozialistisch umschwenkte, und 1933 mit 87 anderen Schriftstellern seiner Zeit das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler unterzeichnete. Gottfried Benn zählte zu ihnen, aber sonst kennt man heute kaum einen der Namen, für sie alle hat sich längst der Vorhang gesenkt.
Unsere braunen Großväter. Der von Werner Herzog starb 1953, als Werner Herzog 11 Jahre alt war. Zu früh, um mit ihm über die NSDAP Mitgliedschaft eine rechtfertigende Auseinandersetzung zu haben, wie sie zweifelsohne zehn Jahre später erfolgt wäre. Und meiner starb einige Monate vor meiner Geburt, also da gab es sowieso nie die Möglichkeit für reinwaschende Erklärungen. Heute würden sie sich beide auf zwingende Umstände berufen, der eine als Schriftsteller und der andere als Professor. Erklären lässt sich im Nachhinein viel, aber dieser Schatten bleibt. Andererseits müssen sie beide gute Typen gewesen sein, mein Rudolf Herzog in seiner stürmischen Künstlerzeit in Berlin, bevor er sich von seinen Erfolgen die Burg am Rhein gekauft hat. Und der von Werner Herzog mit seinen Ausgrabungen des Asklepeions auf der Insel Kos, die, bis dort unversehens die Immigrantenströme aus Syrien und Afghanistan angeschwemmt wurden, von der Welt ziemlich unbeachtet mittelmeerisch dahintrieb. Ob mein Rudolf Herzog seinerzeit von den sensationellen Ausgrabungen in Kos gehört hat? Ob Werner Herzogs Großvater, der Altphilologe, die Bücher von meinem gelesen hat?
Wikipedia berichtet über Werner Herzog, dass er ursprünglich Werner Herzog Stipetic hieß. Stipetic war der Name seiner Mutter. Jedenfalls hieß ich ursprünglich Joachim Herzog. Und irgendwann hat Werner H. den Stipetic gestrichen, um ganz Herzog zu sein, und ich habe zu Bechtle gewechselt. Als Schriftsteller spielte ich eine Zeitlang damit, wieder zu Herzog zurückzukehren, J.R. Herzog, aber erneut meinen Namen wechseln, wieder ein wenig die eigene Identität aufgeben? Und bei Herzog auch immer das braune Ende meines Großvaters erklären zu müssen? Also blieb ich bei Bechtle. Ob Werner H. mit Blick auf seinen Rudolf zu Herzog umgestiegen ist? Einiges muss er auf ihn gehalten haben, schließlich nannte er seinen Sohn nach ihm, oder fast, Rudolph mit ph am Ende. Der dann als Schriftsteller mit dem Buch Heil Hitler, das Schwein ist tot, in die Zeit seines Urgroßvaters zurückblickte. Komik und Humor im Dritten Reich, auch so ein Thema, denn irgendwie ging mit den Juden auch ein Teil des Humors Deutschland verloren. Was übrig blieb war Schadenfreude. Womit das deutsche Dasein um Einiges schwerer wurde.
Ich habe Werner Herzog immer um seine Freundschaft mit Klaus Kinski beneidet. Sie kannten sich von Jugend auf. Wer von ihnen der Wahnsinnigere war? Aus meiner Sicht waren sie beide wahnsinnig, und Wahnsinn ist gut, besonders für Künstler, um sich nicht im Vorgegebenen festnageln zu lassen. Werner Herzogs Wahnsinn? Als er im Spätherbst 1974 in Bayern zu Fuß nach Paris aufbrach, um dort die todkranke Filmkritikerin Lotte Eisner noch lebend anzutreffen, denn Sterben, stellte er sich vor, während er zu ihr unterwegs war, durfte sie keinesfalls. Vom Gehen im Eis, 22 Tage bis nach Paris, total gesponnen, ich liebte das Buch. Als er dort ankam, lebte sie noch, aber seltsamerweise kam es mir darauf nicht an, für mich zählte dieser unsinnige Entschluss und dann tatsächlich loszulegen.
Neben seinen Filmen überraschte mich Werner Herzog mit seiner Video Installation Hearsay of the Soul auf der Whitney Biennial 2012 in New York. Diese Ausstellung im Zweijahresrhythmus mit dem Ziel, aufstrebende Künstler der Welt vorzustellen, und plötzlich erscheint dort der alternde Filmemacher. Wieder der Beweis, dass Alter kein Kriterium ist. Und damit fühle ich mich ihm einmal mehr verbunden. Als ich dieses Video auf der Whitney Biennial erlebte, hatte ich gerade bei der Frankfurter Verlagsanstalt den Vertrag für meinen Debütroman Hotel Van Gogh unterschrieben. Unerheblich, klar, aber es sind gerade diese Verbindungen, die für mich zählen.
Was sein nächster Spielfilm sein wird? Vielleicht 1965 – Rue De Grenelle? Oder das tragische Ende von Klaus Kinski in einer Hütte am Mt. Tamalpais, dem Berg hinter Sausalito, in Sichtweite von San Francisco? Er lebte dort ziemlich einsiedlerisch, man entdeckte ihn erst Tage nach seinem Tod. Werner Herzog war zu der Zeit n Hollywood, ich joggte bei meinen Sonntagsläufen am Mt. Tamalpais nichtsahnend in der Nähe vorbei. Es würde mich reizen, dieses Thema gemeinsam anzupacken, der Schriftsteller und der Filmemacher. Er, Kinski und ich. Ich blicke täglich hinüber zum Mt. Tamalpais. Wie unsere Großväter das finden würden?
J.R.Bechtles dritter Roman Burgkinder erschien im Frühjahr 2018 bei der Frankfurter Verlagsanstalt